Sie irren sich oder: Hütet Euch vor den Matrazenmachern

An vielen Tagen im Jahr bleibt Nyon beschaulich im Wortsinne. Hin und wieder allerdings, wenn der Fußball seine Vertreter schickt ins Zentrum des exquisiten wie exklusiven europäischen Verbandes, wackeln die Wände im Schweizerischen. Heute: Auslosung des  Viertelfinale der Klasse jener Könige, die in diesem Jahr allesamt nach Berlin fahren möchten. In den Hauptrollen: UEFA-Repräsentanten mit süßem Italo-Englisch und der Allgäuer Altinternationale Kalle Riedle. Sein Händchen für besondere Momente scheint erhalten geblieben, in mehrfacher Hinsicht.
Während man in Atletico-Klubkreisen das ins Gesicht zementierte Grinsen wohl zeitnah im Rahmen eines kosmetischen Eingriffs eliminieren muss, dominieren beim amtierenden Champion der Champions Schwitzhände und Angsthäufchen. Die bis dato letzten vier Ligaspiele gegen die los colchoneros gingen allesamt verloren, auch im spanischen Pokal brachte der Stadtrivale den Knockout und das Champions League-Finale der vergangenen Saison wurde nur mit sehr viel Glück gegen die Matrazenmacher gewonnen. Da wartet eine gewaltige Herausforderung auf die Madridistas, ausgerechnet in der eigenen Stadt. Dumm nur, dass sie sowohl in Meisterschaft, als auch zuletzt im Achtelfinale der europäischen Meisterrunde beharrlich an ihrer schlechten Form festhielten. Einzig ein bärenstarker, sehr flexibler Ronaldo hielt die Krise klein, das Gerede kurz, das mediale Donnerwetter erträglich. Diese kleine Krieg mit Atletico hat einen offenen Ausgang. Ich bin allerdings sicher, dass der Mister nach dem Ende der Saison richtig durchschnaufen wird können, unabhängig vom weiteren Verlauf der Saison, der am morgigen Samstag ins Camp Nou führt. Die Real-Führungsriege hat schon Coaches weggeschossen, die soeben die Europas Krone erobert hatten. Meine Empfehlung für Onkel Carlo: Nach vielen Jahren in der Fremde endlich mal wieder die Heimat von ihren schönsten Seiten kennenlernen. Wie wäre es mit einer Rucksacktour durch die Alpen? Oder vielleicht mit dem Caravan zum Gardasee?

Beim FC Barcelona genießen sie den warmen katalanischen Frühling und berauschen sich an der wiederentdeckten Form. Gegen PSG, jenen nur sehr vermeintlich überraschenden Viertelfinalisten wird es trotz der eigenen offensiven Wucht ungleich schwerer als im anstehenden Clasico gegen Real. Im Schatten des eigenen, eher durchschnittlich fordernden Ligabetriebs hat Genius Laurent Blanc in der Stadt der Liebe eine erste Elf geformt, die mittlerweile das entscheidendes Kriterium erfüllt, um internationale Titel zu gewinnen: Herausragende defensive Qualität. Thiago Silva ist in diesen Tagen der beste Abwehrspieler weltweit, an seiner Seite hat sich David Luiz nach dem Weltturnierfiasko längst stabilisiert. Das Verschieben der Mannschaft bei Ballverlust ist beeindruckend und ohne jeden Zweifel europäische Spitzenklasse. Glück für PSG: Das Spiel nach vorne machen enthusiastische Journalisten gerne am hyperaktiven Egomanen Ibrahimovic fest, die im Sinne des Kollektivs für Übungsleiter Blanc viel entscheidenderen Offensivbausteine Lavezzi und Pastore, vor allem aber Lucas gehen derweil medial unentdeckt überaus erfolgreich ihrem Job nach. Diese Variante von PSG ist für Barca eine Bedrohung. Auch weil die Mannen von Luis Enrique exakt diese beschriebene defensive Stabilität nicht mehr haben. Daniel Alves, in der nächsten Saison dann an der Seine zu bewundern, und Jordi Alba stehen im System von Enrique zwar tiefer, aufgrund des inkonsequenten Umschaltspiels und eines zwar interessanten, aber wackeligen 3-2-3-2-Systems, sehen sich die beiden Außenläufer immer wieder einem Unterzahlspiel ausgesetzt. Mit einiger Verwunderung in den Äuglein durfte ich im Camp Nou unlängst bewundern, wie Rayo Vallecano Barca immer wieder in Verlegenheit bringen konnte, über eben jene Außenpositionen. Die 1:6-Niederlage am Ende war für die Gäste aus dem Madrider Vorort deutlich zu hoch ausgefallen. Trügerisch für Barca, das seine neue Stärke nun gegen den formstarken Geheimtipp PSG beweisen kann.

Im Kontext des Bayern zugelosten Viertelfinalgegners FC Porto wählen viele Beobachter die Terminologie Freilos. Sie irren sich. Es wird viel geschrieben rund um den (internationalen) Fußball, wenig Substanzielles bleibt am Ende des Tages zu konstatieren. Angesichts der jüngeren Champions League-Geschichte der bestia negra, zuletzt auch gerne in frisches Weiß, Blau und Rot gehüllt, wäre es schlicht falsch, den Favoritenstatus in die portugiesische Hafenstadt zu schieben, großer Respekt aber ist dringend anzuraten. Der am Atlantik ansässige Meister von 2013 kommt, trotz einiger erwähnenswerter Individualisten, eindeutig über das Kollektiv zu seinem aktuellen Erfolg. Gesprochen wird über die überdurchschnittlich treffsichere Offensive um den Kolumbianer Jackson Martinez, beachtlich ist allerdings die sehr gute Defensivarbeit. Der FC Porto hat in der laufenden Meisterschaft die wenigsten Gegentore und insgesamt nur zwei Niederlagen kassieren müssen. Es wird sicher kein Spaziergang für Guardialos willige Helfer. Man darf gespannt sein, wie der katalanische Taktikgroßmeister seine Mannschaft in Porto aufstellen wird.

Schade, vermeidbar, fahrlässig wären die passenden Beschreibungen für die im Achtelfinale gegen Juventus Turin dokumentierten Auftritte von Borussia Dortmund. Nach drei fußballerisch starken Jahren mit der Rückkehr in die europäische Elite, verläuft die aktuelle Saison insgesamt katastrophal, die letzten Auftritte in dem wichtigsten kontinentalen Klubwettbewerb signalisieren massive Probleme im Kader am deutlichsten. Man muss für das schwarzgelbe Scouting vor Saisonstart nichts anderes als Versagen feststellen. Das laute Lamentieren über die Verluste von Götze und Lewandowski ist zu belächeln, die vielen Klubs, denen der BVB die stärksten Spieler klaut, jammern leiser. Einzig die Kompensation der eigenen Abgänge ist ein Waterloo-Ereignis für die Verantwortlichen. Es war bereits vor der Saison abzusehen, dass Adrian Ramos kein Stürmer ist, der zu den von Jürgen Klopp präferierten Spielsystemen passt und für die Information, dass Ciro Immobile spezifische Umgebungsbedingungen für sportliche Höchstleistungen braucht, wäre keine Italienexkursion nötig gewesen. Dass man nach großen Turnieren, die dann auch noch in größtmöglichen Erfolg für die abgestellten Angestellten münden, einen auch qualitativ tiefen Kader benötigt, hat sich im Süden der Republik als Erkenntnis durchsetzen können, im Westen trocknen sie salzige Tränen. Wie schnell „echte Liebe“ dann auch schon mal geopfert wird, ist im Westfalenstadion aka Signal Iduna-Park immer häufiger nicht zu überhören. Neben den bereits angesprochenen Sportkameraden Immobile und Ramos fehlte auch den Herren Kirch, Kampl, Ginter, Schmelzer, Kehl und Bender schlicht die Klasse, um gegen ein verbessertes Juve mitzuhalten und sie fehlt, um zeitnah europäisch zu jubeln. Der schnelle Mann aus dem Gabun gründete unlängst mit Mchitarjan, Kagawa und Sahin den Klub der Unsichtbaren und am Ende des Tages wird es für den bemitleidenswerten Superhelden Reus schwer, die vom Plebs und weiten Teilen der Journallie überschwänglich gelobhudelten Ambitionen zu realisieren, die er bei seiner Vertragsverlängerung offensiv verkündete. Wieder einmal zeigt sich, dass zwischen dem Bundesliga-Alltag und der Champions League diverse Qualitätssprünge zu überstehen gilt. Und die Anstrengungen im Pott waren zuletzt ausschließlich Hüpfer, nicht mehr, nicht weniger. Unter dem Strich kann es für den BVB in dieser Saison nur ein Fazit geben: Erstaunliche Fehlerketten auf allen Ebenen führen zu Versagen des Gesamtsystems. Es ist mit dem legitimen neuen Anspruch der Dortmunder nicht in Einklang zu bringen, Juventus Turin auf eigenem Platz mit 0:3 zu unterliegen und in der Liga keine Rolle zu spielen.

Spielunterbrechung

Liebe Freunde des gepflegten Rasensports,

mitunter kommt es anders als man denkt, rechnet, fühlt und überhaupt. Aufgrund eines wirklich schicken Buchprojekts müssen wir unter größten Herzschmerzen diesen Blog für eine gewisse Zeit ruhen lassen. Die Tinte unter dem Vertrag ist bereits getrocknet, allein die Umsetzung wird eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Daher handelt es sich um keine gewöhnliche Spielunterbrechung, es ist aber eine; der schwungvolle Tanz auf dieser Hochzeit ruht. Aber keine Angst, die verlorene Zeit wird nachgespielt. Versprochen! Und sicherlich länger als die obligatorischen drei Minütchen, die der gemeine deutsche Spielleiter dazu gibt.

In diesem Sinne: Wünscht uns Glück und Traumtore. Kreativität und langer Atem wären auch knorke.

Bis bald.

Heute: Marco Reus

nur mal so schnell zwischendurch: unabhängig davon, dass es sich um marco reus und den bvb handelt: entscheidungen dieser art mögen populistisch gut zu verkaufen sein, fans stehen auf derlei (vermeintlich) emotionale bekenntnisse. der finanzielle aspekt ist auch keiner, weil es im grunde humpe ist, ob es 7 oder 9 millionen am jahresende sind.
nein, nein, es geht um die perspektive. sportlich sind diese entscheidungen mit „ziemlich dämlich“ noch freundlich umschrieben: das war bei uwe seeler schon so und wird bei reus nicht anders sein. da hat sich jemand freiwillig für stillstand und damit rückschritt entschieden. und bevor die frage kommt: die liste derer, die es richtig gemacht und sich massiv weiterentwickelt haben enthält gerade jungs wie emre can (liverpool) und auch namen wie klinsmann, brehme, berthold oder matthäus tauchen auf. ich unterstelle marco reus nicht, dass er keinen arsch in der hose hat, aber die indizien sprechen dafür. er hat bis 2019 keinen konkurrenzkampf zu fürchten, muss sich keiner neuen situation stellen. aber, so ist das eben: jeder jeck ist anders…

Realistischer Formcheck

Wer wissen will, wo die Bayern aktuell stehen, der hat beim Champions-League-Spiel gegen den AC Florenz hoffentlich ganz genau hingesehen. Nachdem die Euphorie ob der Bundesliga-Dominanz bei einigen realitätsblinden Beobachtern schon in den Himmel gewachsen war, zeigte die Fiorentina über weite Strecken des Spiels, wie leicht dem vermeintlichen Zauberfußball der „Bestia Negra“ der Zahn zu ziehen ist.

Bevor das Spiel in Hälfte zwei der Zerfahrenheit anheim fiel und von beiden Seiten zunehmende Härte die spielerischen Akzente ersetzte, zeigte sich dem geneigten Zuschauer eine Partie, die jedem Fußballlehrbuch zur Ehre gereicht hätte. Florenz spielte aggressives Forechecking, stand eng am Mann und stellte die Räume clever zu. Noch bemerkenswerter jedoch war das Spiel der Münchener Bayern. Der Gegner ließ spektakulären Hurra-Fußball nicht zu, also spielte man keinen Hurra-Fußball.

Hinter dieser lapidaren Aussage steckt ein beeindruckender taktischer Reifeprozess, den die Mannschaft unter der Ägide von Louis van Gaal durchlaufen hat. Die Souveränität und Gelassenheit, mit der man auf Münchener Seite den Ball durch die eigenen Reihen laufen ließ und geduldig auf die Lücke wartete, mag dem gemeinen Fan nicht schmecken, zeugt aber von taktischer Reife und gesteigerter Qualität. Noch unter Jürgen Klinsmann wäre man mit dem Kopf durch die Wand gerannt, um aufgrund des kräftezehrenden Spiels in der Schlussviertelstunde auseinanderzufallen.

An diesem so aufschlussreichen Mittwoch hingegen hatte man zu keiner Zeit das Gefühl, die Bayern könnten das Spiel verlieren. Lohn der Geduld – und somit folgerichtig – war der Führungstreffer zum Ende der ersten Halbzeit. Wo also steht der FC Bayern München nach dieser Halbzeit? Anders als in der Bundesliga kann der Gegner international nicht an die Wand gespielt werden, zumindest nicht über eine komplette Halbzeit. Gegen die Fiorentina , die man angesichts der Ergebnisse aus der Gruppenphase durchaus zur erweiterten Weltspitze zählen darf, reichte es aber zu einem deutlichen spielerischen Übergewicht, welches sich nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, der individuellen Klasse verdankt, sondern einer klaren taktischen Handschrift. Diese Handschrift wurde – und das ist das eigentlich Bemerkenswerte – von der Mannschaft eine Halbzeit lang präzise umgesetzt. So intelligent hat man eine deutsche Vereinsmannschaft selten spielen sehen.

Sicher, noch passte nicht alles zusammen. In der Offensive fehlte der letzte Schliff (wo war eigentlich Müller?), Hälfte zwei zeigte phasenweise Rumpelfußball altdeutscher Schule und das positive Ergebnis kam letztendlich glücklich zustande. Dennoch: Diese Mannschaft ist auf einem guten Weg, der ihr mit einiger Wahrscheinlichkeit den nationalen Titel bescheren wird. International hängen die Trauben allerdings höher. Ein Champions-League-Sieg in dieser Saison kommt wohl zu früh. Wenn aber Louis van Gaal in Ruhe weiterarbeiten und die Mannschaft nach seiner Fasson umbauen darf, dann können Bayern-Fans bald wieder berechtigt träumen.

Mit Schwung ins neue Fußballjahr

Okay, okay… Die vergangenen Wochen waren nicht besonders ergiebig, wenn man als geneigter Besucher dieser Seite aufregende neue Artikel erwartet. Dieser traurige Umstand ist einem rumpeligen Zeitdefizit geschuldet, weniger möglicherweise erkalteter Leidenschaft.

Und so starten wir denn mal mit Wucht ins neue Fußballjahr. Es bringt uns die erste Weltmeisterschaft auf afrikanischem Boden; auch den ersten afrikanischen Weltmeister? Wohl kaum…Aber wir werden es sehen und entsprechend goutieren.

Jedenfalls wünschen wir allen unseren Freunden und Besuchern alles Gute, viel Kreativität, Glück, Gesundheit und jede Menge gute Spiele im neuen Jahr. Rocknroll.

Normalerweise machen wir so etwas nicht, aber heute, am Jahresanfang, drücken wir mal alle Augen zu: Hier findet Ihr ein schönes Interview der geschätzten Kollegen von 11Freunde. Ein schönes Händchen für Geschichten habt Ihr, ohne Frage.

Ein Mann sucht Anschluss

Ein 3:0 ist ein 3:0 ist ein 3:0. Kürzer kann man alle Fragen zum derzeitigen Leistungsvermögen der TSG aus Hoffenheim nicht beantworten. Alle Fragen? Nicht ganz. Abgesehen von der Tatsache, dass ein erschreckend schwacher VfL Bochum, der sich in Absteigerform präsentierte, nicht gerade als realistischer Formcheck taugt, blieben vor allem bei einer Personalie alle Fragen offen.

Hoffenheim war zunächst um Rangnicks Ordnung bemüht, zeigte Schwächen  in der Spieleröffnung, dominierte aber nach dem 1:0 in der 16. Minute deutlich. Die Innenverteidigung sattelfest (sehr souverän vor allem Simunic), die Außenverteidiger offensiv – Ibertsberger vor allem in Hälfte eins überraschend stark (und besser als der zu Recht hoch gelobte Beck). Im Mittelfeld zog Carlos Eduardo die Fäden, unterstützt von unauffälligen Salihovic und Luiz Gustavo. Vorne wirbelte Obasi, ackerte Ba und – ja und was eigentlich?

Vedad Ibisevic war körperlich anwesend (der Autor hat ihn mit eigenen Augen gesehen), glänzte im Spiel aber weitgehend durch Abwesenheit. Durchaus nicht ohne Engagement, aber völlig ohne Bindung zu seinen Mitspielern, stand Ibisevic meistens da, wo ein Stürmer gerade nicht stehen muss. Und wenn doch einmal ein Ball den unwahrscheinlichen Umweg zu ihm machte, vergab er in teilweise leichtfertiger Manier. Ein durchaus Mitleid erregender Anblick, wenn man bedenkt, mit welcher Selbstverständlichkeit der Bosnier noch in der vergangenen Hinrunde als Krone des Hoffenheimer Offensivfußballs agiert hatte.

So kam es fast einer Erlösung gleich, als Ibisevic in Minute 88 endlich die durchaus brütende Spätsommersonne mit kühlem Kabinenschatten eintauschen durfte. Ersetzt wurde er durch den vor Beginn der Saison verpflichteten Maicosuel. Noch darf man dies nicht als Wachablösung interpretieren. Da Ibisevics mangelnde Spielbindung aber kaum noch nur auf Trainingsrückstand nach der langen Verletzung geschoben werden kann, sollte er sich nicht mehr allzu viele Auftritte wie den am vergangenen Samstag erlauben, wenn er einen Stammplatz behalten will.

Solange die Spiele trotz eines nicht stattfindenden Stürmers deutlich gewonnen werden, kann Ralf Rangnick weitgehend ohne lästige Fragen an seinem einstigen Wunderknaben festhalten. Sobald jedoch ein 3:0 kein 3:0 mehr ist, sondern die Null womöglich auf der falschen Seite steht, wird der Druck auf den Trainer wachsen, der zweiten Reihe eine Einsatzchance in der Startelf zu ermöglichen.

Die Heldenbäckerei

Es ist ja auch verständlich und lädt trotzdem nicht zu Nachsicht ein. Irgendwo zwischen dem Rücktritt von Franz Beckenbauer und dem Ausscheiden von Lothar Matthäus sind der Fußballnation die Helden abhanden gekommen. Und die deutsche Fußballseele lechzt nach Helden, die deshalb händeringend gesucht werden. Ballack taugt nicht; zu spröde der Charme, zu teutonisch die Auftritte auf dem Platz. Ein Philipp Lahm überzeugt als kreuzbraver Schwiegermutterschwarm („handsome“, würden die Tommys wohl sagen), hat sich für höhere Helden-Weihen aber spätestens seit seinem Werbeauftritt für Deutschlands heldenhafteste Zeitung disqualifiziert. So zieht die geifernde Medienmeute der Jubelperser weiter, immer auf der Suche nach einer neuen Sau, die durchs Dorf getrieben werden kann, nach einem neuen Opfer halbgarer Sympathiebekundungen.

Jetzt also Özil. Mesut mit Vornamen. Aber worüber reden wir denn hier? Wir reden über einen definitiv talentierten jungen Mann, der mit seinen 20 Lenzen jedoch kaum der Mutterbrust entwöhnt ist und jetzt ins kalte Haifischbecken des bundesdeutschen Fußballjournalismus geworfen wird. Unverhofft und fast ohne eigenes Zutun. Er hat ein (in Zahlen: 1) gutes Länderspiel gemacht. Meinetwegen auch ein sehr gutes. Er wird es möglicherweise noch bereuen.

Damit das nicht passiert, eine demütige Bitte: Ball flach halten, Kirche im Dorf lassen, Kuh vom Eis und so weiter. Jedenfalls keine Messias-Zuschreibungen an einen jungen Deutsch-Türken (oder Türken-Deutschen?), der – wenn man die Gebete vor Spielbeginn richtig interpretiert – mit diesen ob seines Glaubens ohnehin wenig anfangen kann. Wenn man ihn in Ruhe eine gute Saison beim SV Werder Bremen spielen lässt, wenn man ihm Zeit und Spielpraxis für eine gute Entwicklung gibt, kann ein sehr guter Spieler aus ihm werden, der auch der Nationalmannschaft weiterhelfen kann und wird. Bis dahin gilt: Setzen, Keks nehmen und wenn man es gar nicht mehr aushalten kann: Den alten Gerd-Müller-Schrein entstauben.

Blindheit auf höchstem Niveau

Das fussballgedanken-Team hat sich den besonderen Themen verschrieben, jenen Gesängen, die abseits der großen Fankurven ertönen. Und dennoch bleibt nicht jede thematische Versuchung, die direkt oder nicht so direkt durch Medienkollegen oder deren allesamt erfrischende Erzeugnisse an uns heran getragen wird, ohne Erfolg.

Blindheit hat als angedichtete, irgendwie wenig schmeichelhafte Eigenschaft auf und neben den Fußballplätzen dieser Welt eine lange Tradition. Meist ist es die fehlende räumliche und insbesondere emotionale Distanz, die zu einer gewissen Sehschwäche im Sinne von massiven Fehleinschätzungen führt. Mitunter ist das Leistungsvermögen der Gucklöcher durchaus bei einhundert Prozent, aber Fehlschaltungen auf dem Weg zum höher gelegenen Hirn führen zu dramatischen Leistungseinbrüchen. Im Grunde auch schnurzpiep.

Wir lassen uns erstmals hinreißen und reden über selbstbewusst und pausbäckig ausgelebte Blindheit auf höchstem Niveau. Möglicherweise sogar eine Blindheit mit weit um sich schlagender Inkubationskeule.

Das Eis ist dünn, zugegeben, aber betreten wir es mit dem Mute der Verzweiflung: Ein Großteil der ins Fußballgeschäft involvierten Journalistenkollegen sind entweder mit naiver Romantik ausgestattete, mitunter sogar wenig eloquente Nulpen oder sensationsgeile Rampensäue, die sich gerne im Lichte derer sonnen, die sie zwei Ausgaben und eine Sendung später verbal in die Wade beissen. Punkt. Blind, was die wahre Bedeutung, seine Interpretation, spieltechnisch und taktische, vor allem aber internationale Bedeutung dieses wunderbaren Sports angeht, ist hierzulande ein Gros der Kollegen. Leider.

Man könnte es den Töpperwien- oder Faßbender-Effekt nennen, aber bei diesen verbal wie handwerklich eher unterdurchschnittlichen Vertretern des deutschen Sportjournalismus ist wenigstens Herzblut im Spiel. Denn: Passion vermag einiges zu kompensieren, allerdings bei weitem nicht jeden Schnitzer, wie der angesprochene ZDF-Kollege unlängst mit seinem Spielbericht aus Mainz (2:1 gegen den FC Bayern) für das Sportstudio unter Beweis stellte: Genie und Wahnsinn eng beieinander, viel zu eng für meinen Geschmack. Spielbericht eine mittelschwere Katastrophe, die Interviews hingegen große Klasse.

Weil wir Töppi am Ende des Tages ob seiner Liebe zum Ball mögen und ihm auch den Stadionsprecher für den 1. FFC Frankfurt verzeihen, gibt es hier das gelungene Interview mit dem westfälischen Lautsprecher in Bayern-Kreisen, Herrn Karlheinz Rummenigge, als Zeichen unseres Respekts, trotz, naja, Sie wissen schon…

Fragen bleiben dennoch. Viele. Wann wird die schreibende, filmende und jederzeit fleißig fragende Menschenschar hierzulande begreifen, dass es Gesetzmäßigkeiten im Fußball gibt? Dass Hierarchie offensichtlich nur in Deutschland eine Rolle spielt und bei einem Gegentor nicht zwingend die Defensivreihe Schuld trägt? Wann werden sie lernen, Leistungen korrekt einzuschätzen und trotz kindlicher Begeisterung Spiele realistisch abzubilden? Wann schweift der Blick mal hinaus über diesen doch sehr beschränkten deutschen Horizont mit Abstechern auf die heiß geliebte Insel, deren Leistungsdichte ohne Zweifel unter jener der Bundesliga liegt? Warum räumt das DSF Sonntag für Sonntag nachhaltigen Dummschwätzern kostbare Sendezeit ein, die einen Juan Arango nicht kennen, aber Mario Gomez auf europäischem Niveau sehen?

Einer nicht zu leugnenden Mehrheit im deutschen Fußballjournalismus mag es irgendwie schon auch um diesen Sport zu gehen. Begriffen aber haben sie nichts. Es geht nicht um Ohrfeigen, die ein überschätzter Kölner Fußballspieler in latentem Mangel an Hirnleistung seinem Capitano mitgibt. Es geht nicht um all das Beiwerk, gescheite, von praxisfernen Dozenten an Journalisten- oder anderen Hochschulen vorformulierte Fragen an schwitzende Akteure, fünfzehn Sekunden nach Abpfiff.

Es geht um Seriosität, auch um Leidenschaft, insbesondere aber um Hingabe, um mit geschulten Augen und klopfendem Herzen diesen Sport und seine Akteure richtig zu begreifen und dann medial zu transportieren. Es geht um die richtigen Kommentare zur richtigen Zeit. Um plausible Nachrichtenwerte für sauber recherchierte Geschichten. Um erweiterte Horizonte. Die Wahrheit liegt immer auf dem Platz, nie in einer schicken Media Lounge, beim Klasse-Italiener um die Ecke oder auf dem beheizten Trainingsgelände.

Natürlich funktioniert ein guter Journalist in der geliebten Fußballwelt weniger abstrakt. Im Grunde aber treffen diese Beschreibung den Kern des Jobs und sie zeigen, was all den vermeintlichen Experten fehlt.

Kopf und Herz benötigten weitere unzumutbare Kapazitäten, um alle thematisch relevanten Inhalte zu journalistischen Fehlleistungen in deutsche Land zu konstatieren. Das aber wird weder diesem Medium unserer Wahl gerecht, noch verändert es die Tatsache, dass ausgerechnet die bedenklichsten Fälle wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten direkt zur Ausbildung von Nachwuchskräften heran gezogen werden oder wenigstens wurden: bei Michael Steinbrecher ist das unter Umständen mit vielen zugedrückten Augen gerade noch nachvollziehbar, was ein Boris Büchler an der Sporthochschule Köln vermittelte, soll mir unbedingt insbesondere im Detail verborgen bleiben. Vielleicht liefert er seinen ehemaligen Schützlingen Woche für Woche aber auch anschauliches Bildmaterial dafür, wie Journalismus im Fußball nicht geht. Wieder einmal muss man Uli Hoeneß zustimmen, ob gewollt oder nicht.

Warum sich einige Funktionäre überlegt haben, Steffen Simon könne bedenkenlos auf ein Millionenpublikum losgelassen werden, wird mir auch für immer verborgen bleiben. Vielleicht sind sie gut versichert. Auch dem guten alten Poschi sollte man mal stecken, dass er nur zu Leichtathletikveranstaltungen Sportarenen betreten sollte. Über die Printjungs kommen mir die Tränen: Die sportjournalistischen Erzeugnisse der Springer-Presse verdienen nicht einmal Beleidigungen. In der Seele aber tut mir weh, wie schlecht der altehrwürdige kicker tatsächlich ist; auch, weil dort mit Jörg Jakob einer in der Chefetage sitzt, der die gleichen Wurzeln hat wie ich.

Hoffnung keimt bei 11FREUNDE und der Frankfurter Rundschau: Viel Herz, viel Leidenschaft, einige Fehleinschätzung und dennoch ein gutes Gespür für Geschichten.

Und überhaupt: Nicht in die Pfanne hauen wollen wir, vielmehr sensibilisieren für die wahren Nachrichtenwerte, relevanten Informationen und internationalen Perspektiven des Fußballs im 21. Jahrhundert und davor. Uns stellt sich die Frage, wie lange sich ein derart professionell und attraktiv agierender Fußballsport in Deutschland ein in der Mehrheit derart unprofessionelles und unattraktives Journalistenkollektiv leisten kann; von wollen kann unter den Voraussetzungen geistiger Unversehrtheit bei den Betroffenen keine Rede sein.

Apropos Hoeneß, war der nicht eben erwähnt: Wir vergeben in dieser Woche noch eine zweite Nuss für Blindheit auf hohem, ja, höchstem Niveau. Das jedoch, nachdem wir einen großen, dicken Hut mit vielen Würsteln drin vor Uli Hoeneß’ Leistungen für seinen geliebten FC Bayern in den vergangenen dreißig Jahren gezogen haben. Gut. Erledigt.

Zu reden hätten wir aber noch ein wenig über die Transfers in den vergangenen beiden Jahren, die durchaus auch wenig clevere Zeitgenossen mit bedenklich trübem Blick für die aktuelle sportliche Misere verantwortlich machen.

Man könnte gar auf die Idee kommen, dass selbst eine Mannschaft wie Bayern München an Schrecken verliert, wenn Leistungsträger verkauft werden und kein gleichwertiger Ersatz das Bazi-Trikot überstreift. Aus der „bestia negra“ ist ein Zahn- und Mähnen loser Altlöwe geworden, den auch frisches holländisches Blut nicht wieder dauerhaft zu jugendlichen Glanztaten motivieren wird.

Vielleicht aber auch spekuliert man an der Säbener Straße darauf, große Schlachten in der Champions League wie etwa gegen Juventus Turin mit der Taktik für sich zu entscheiden,  vorne ein Tor mehr zu schießen als hinten zu kassieren. Klartext: Es brauchte keinen weiteren Flügelstürmer, obwohl Robben zweifelsohne seinen Reiz hat. Diese Mannschaft ist angesichts eigener und fremder Erwartungshaltung dringend auf einen hervorragenden Torwächter (guten Tag, Herr Netzer), einen Innenverteidiger von internationalem Format (Lucio), einen weiteren Außenverteidiger (Juan Vargas) und insbesondere einen Spielmacher (es gibt sie noch und sie sind wichtig) sowie einen zusätzlichen kreativen Mittelfeldakteur angewiesen.

Immerhin verriet der neue Coach mehr oder weniger ungefragt, dass er mit den diesjährigen Transfers wenig zu tun habe. Gute Sache. Wusste in dem Moment nicht, ob ich lachen oder weinen muss.

Wir warten ab, erfreuen uns am Spiel und hoffen, dass die Sportkameraden Lahm und Schweinsteiger nach der Saison endlich über ausreichend männliche Härte verfügen, um ins Ausland zu wechseln.

Die Nationalluschen oder: auch Erich Ribbeck kann irren

Liebe, hoch verehrte Leserschaft,

bitte nehmt diesen launigen kleinen Beitrag nicht ernst und habt dennoch Spaß. Eine nicht repräsentative Umfrage hat ergeben: Es gibt sie, die kickenden Luschen und Nulltalente, die Graupen im Trikot, die zweikämpfenden Vollpfosten, die sich in einem akuten Anfall geistiger Umnachtung auf Trainerseite sogar das Trikot mit dem Adler überstreifen durften. Unsere Aufstellung ist unvollständig und reicht nur bis Mitte der Achtziger zurück; mit der freundlichen Bitte um Ergänzung.

Hier nun unsere diskussionswürdige, partiell Generationen übergreifende Liste des fussballerischen Grauens:

Tor: Oliver Reck, Walter Junghans

Abwehr: Alexander Madlung, Arne Friedrich, Lukas Sinkiewicz, Matthias Herget,  Ingo Hertzsch, Carsten Ramelow, Tobias Rau, Jens Todt, Ingo Hertzsch, Manfred Binz, Paul Steiner

Mittelfeld: Dieter Eilts, Jens Jeremies, Zsoltan Sebescen,  Marco Engelhardt, Christian Rahn, Stephan Engels, Steffen Freund, Ralf Falkenmeyer

Angriff: Olaf Marschall, Michael Preetz, Ulf Kirsten, Carsten Jancker, Paulo Rink, Uwe Reinders,  Benjamin Lauth, Gerald Asamoah

Un nu? Du!

Der Löwenbändiger – Experten prophezeien Schalkes Nachwuchsverteidiger Carlos Zambrano eine große Zukunft

Als Superstar Sergio Agüero an diesem Abend des 11. September in der 63. Minute vom Rasen des Estadio Monumental in Lima schleicht, erheben sich die Zuschauer von ihren Sitzen. Aber sie erweisen nicht dem momentan wahrscheinlich größten Sturmtalent des internationalen Fußballs die Ehre. 40.000 Peruaner applaudieren einem jungen Landsmann, von dem sie vorher nie gehört hatten, dessen überragende Defensivleistung sie im Qualifikationsspiel gegen Argentiniens Wundersturm Agüero und Lionel Messi aber faszinierte. Selbst das argentinische Fernsehen kürt den 19-jährigen Abwehrmann von Schalke 04 an diesem Abend zum „Mann des Spiels“. In Deutschland hingegen fristet Carlos Zambrano lange ein Reservistendasein, pendelt zwischen Tribüne und einem Platz auf einer königsblauen Ersatzbank. Im Sommer 2009 allerdings zeigt sich, dass seine Trainer mit ihren Prognosen Recht behalten: Auf Zambrano angesprochen ist von „großer Zukunft“ und „Weltklasseformat“ die Rede. Im ersten Bundesligaspiel der Saison 2009/2010 steht Zambrano neben Marcelo Bordon in der Startelf.

Angesichts seines Leistungspotenzials erscheint es doppelt bitter, dass Carlos Zambrano sich im Rahmen der Champions League-Qualifikation ein Jahr zuvor nicht auch im Verein der Herausforderung Sergio Agüero stellen durfte. Gegen Atletico Madrid gehörte er zwar zum Kader, sein neuer Coach Fred Rutten aber vertraute den erfahrenen Kräften. Es ist fraglich, ob Zambrano eine ähnlich starke Leistung gegen den argentinischen Jungstar hätte abrufen können und damit unter Umständen die schmerzhafte Erinnerung an das eigene Vereinsgründungsjahr im Endergebnis durch Atletico verhindert hätte. Das Gegenteil vermag allerdings auch keiner zu beweisen. Norbert Elgert, legendärer Trainer diverser Schalker Jugendmannschaften, geriet, auf den Kapitän seiner A-Jugend angesprochen, bereits vor einem Jahr ins Schwärmen: „Der Junge wird sich mit seinem großen Talent durchsetzen, im Verein und in der Nationalmannschaft.“

Ein Blick zurück scheint sich zu lohnen: Vieles im Leben des Carlos Zambrano klingt nach Klischee und riecht nach einer mittelmäßigen, weil zu oft realisierten Story für Hollywood. Oder quotensüchtige deutsche Privatsender. Und dennoch sind die zu beachtenden Abschnitte im Leben der Schalker Nachwuchskraft wichtig, dürfen im Hinblick auf das Talent, Leistungsvermögen und auch den Charakter Zambranos nicht verschwiegen werden.

Als der Defensivfußballer am 10. Juli 1989 im Hafenbezirk Callao in der peruanischen Hauptstadt Lima in ärmlichsten Verhältnissen geboren wird, deutet nichts darauf hin, dass ihm neunzehn Jahre später tausende peruanische Fußballfans zujubeln werden und er auf dem Sprung zu einer internationalen Fußballkarriere ist. Das Leben im Andenstaat ist in jenen Tagen geprägt von einem brutalen Bürgerkrieg, massiver Armut und einer Anhäufung gesellschaftspolitischer Unzulänglichkeiten. Wie für unzählige andere Familien bedeutet Leben für die Zambranos einen täglichen Kampf mit nur einem Ziel: Überleben trotz Hunger. Überleben trotz Kriminalität und Anarchie in Bezirken wie Callao.

Natürlich prägt dieser Kampf auch das Leben des Sprösslings Carlos. Das schlaksige Jüngelchen mit den schwarzen Haaren lernt schnell, sich zu behaupten. Er lernt zu kämpfen. Er lernt zu siegen. Und er findet schnell Geschmack daran, auf kleinen, kaputten Betonplätzen gegnerische Stürmer daran zu hindern, den provisorischen Plastikball im nicht minder provisorischen Tor des eigenen Teams unterzubringen. Wie für nahezu alle Jungs in seinem Alter wird Fubito, eine Art Kleinfeldfußball mit leicht abgeänderten Regeln, vor allem aber kleinerem Spielgerät, für Carlos Zambrano wichtigste Beschäftigung in einem tristen, in vielerlei Beziehung lebensgefährlichen Alltag. Fubito lehrt ihn viel über das Leben und nicht zuletzt die Basis im Fußball: Technik, Handlungsschnelligkeit, Zweikampfhärte.

Er fürchtet niemanden. Nicht auf dem Platz. Nicht im Leben. Diese ihm eigene Härte und ein scheinbar unbezwingbarer Mut erinnern an einen Löwenbändiger. Eigenschaften, die ihm schließlich auch den Weg in den Profifußball ebnen. In seinem Heimatland läuft er bereits im Alter von elf Jahren für den Profiklub Academica Deportiva Cantolao auf. Als Stammkraft und Kapitän führt er 2005 die peruanische U17-Auswahl in das Weltmeisterschaftsturnier im eigenen Land. Trotz des frühen Ausscheidens, Hohn und Spott in der heimischen Presse spielt sich Carlos Zambrano in die Notizbücher europäischer Scouts. Sie sehen einen überaus talentierten Fußballer, der verbissen und ohne Angst um jeden Ball kämpft. Und gleichzeitig einen Anführer, dessen Eleganz und Souveränität, dessen Liebe zum Spielgerät an große Namen der Vergangenheit erinnert. Ein knappes Jahr später hat sich für den Jungen aus Callao alles geändert: mit Schalke 04 hat er einen neuen Verein und in Deutschland auch ein neues Zuhause gefunden.

Es ist das Jahr des Sommermärchens und möglicherweise hilft die landesweite Fußballbegeisterung während der Weltmeisterschaft 2006 auch Carlos Zambrano, sich besser in der neuen Umgebung einzuleben. Auch der warme Sommer kommt dem sonnenverwöhnten Südamerikaner sicher gelegen. In der Schalker A-Jugend jedenfalls ist Carlos Zambrano sofort gesetzt, wird wenig später durch überragende Leistungen auf dem Platz Kapitän und Führungskraft einer talentierten Mannschaft.

Während Zambrano in Deutschland langsam an höhere Aufgaben heran geführt wird und unter Felix Magath nun vorerst einen Stammplatz zu haben scheint, gelingt der Sprung in die Nationalmannschaft Perus im Sommer 2008 sehr schnell. Allerdings gilt es ausgerechnet in der Heimat größere Hindernisse aus dem Weg zu räumen. „Wer ist dieses Bürschchen?“, fragen die Printmedien in Lima den umstrittenen Trainer Jose del Solar. „Wie soll uns einer aus einer Nachwuchsmannschaft in Deutschland helfen können?“, schießen sich im Vorfeld der beiden WM-Qualifikationsspiele gegen Venezuela und Argentinien auch im Fernsehen Kommentatoren auf den neuen Innenverteidiger Carlos Zambrano ein, ohne dass ihn viele der Journalisten überhaupt jemals hätten spielen sehen. Zudem fehlt vielen peruanischen Beobachtern das Wissen um die professionellen Strukturen und Herausforderungen auch im Nachwuchsbereich des europäischen Klubfußballs. In Südamerika wird die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen tendenziell eher vernachlässigt. Es gibt schlicht und ergreifend eine offensichtlich nicht versiegende Quelle an Talenten. Sie spielen am Strand und auf den Betonplätzen der Armenviertel. Die Relevanz gezielter Förderung der eigenen Nachwuchskräfte wird in vielen lateinamerikanischen Ländern ignoriert oder gar nicht erst gesehen.

Seit Anfang September 2008 steht Carlos Zambrano als umjubeltes Beispiel für sehr gute Jugendarbeit, in Deutschland. Und möglicherweise auch für einen Umbruch in der peruanischen Landesauswahl. Auf sein solides, aber noch eher zurückhaltendes Spiel gegen Venezuela, das die Peruaner mit 1:0 gewinnen, folgt der eingangs erwähnte, formidable Auftritt gegen die hoch favorisierten Argentinier. Im Grunde schmeichelt das 1:1-Unentschieden von Lima den Gauchos eher als den Gastgebern. Es ist der erkämpfte Punkt einer neuen Generation, die mit einem mutigen Trainer, aber ohne ihre ausgeladenen Stars Pizarro, Farfan, Guerrero und gesperrten Stammkräfte gegen eine der besten Mannschaften der Welt besteht. Und es ist die vielfach beachtete und medial gewürdigte Reifeprüfung des Carlos Zambrano.

„Carlos ist ein guter Junge, der gerade einmal 19 Jahre alt ist. Vielleicht hat er noch nicht so viele Minuten für Schalke in der Bundesliga gespielt, aber er hat heute gezeigt, dass er sich mit seinem überragenden Talent und seinem Mut auch gegen die besten Stürmer der Welt durchsetzen kann. Peru wird in den kommenden Jahren einen Innenverteidiger mit Weltklasseformat haben“, diktierte Nationalcoach Jose del Solar den Journalisten nach der Partie gegen Argentinien in die Blöcke.

Dass Carlos Zambrano damals nach der rund fünfzehnstündigen Rückreise in seine Wahlheimat Gelsenkirchen den harten Boden der Tatsachen in Form einer Ersatzbank klaglos akzeptierte, um sich dann bis heute in die Stammelf zu kämpfen, spricht für seinen guten Charakter. Er weiß um sein Talent und die hart erarbeitete Chance auf Profifußball. Er weiß, dass seine große Zeit erst langsam beginnt. Die Zeit eines peruanischen Löwenbändigers im Herzen Deutschlands.